Und so saßen sie schließlich alle fünf wieder in der Betrunkenen Meerjungfrau und planten das neue Abenteuer. Wohin es führen sollte, daran gab es keinen Zweifel: In die verlassene Zwergenbinge Tiefwasser, das hatten Sargas und Kevron alles schon vorbereitet. Für zwergische Maßstäbe noch relativ jung, wurde Tiefwasser, auch übersetzbar als ‘Tief-Fluß’ oder ‘unterirdischer Fluß’, wurde vor 400 Jahren gegründet und gut hundertfünfzig Jahre später schon wieder verlassen – die Unterlagen weisen auf ein Minenunglück hin. Und wo Minen sind, müssen Schätze sein. Immer. Sargas hatte eine Karte erwerben können, die den Weg zur Binge aufzeigt, und Kevron hatte die Beschreibung der Tiefwasserzwerge, ‘dunkelhäutig und kleiner’, sicherheitshalber gleich mit Duergar übersetzt, den verfeindeten Vettern der normalen Zwerge, damit auch Torim keine Einwände gegen das Abenteuer bringen konnte.
Aber eines hatte er nicht bedacht: Daß nämlich ein Zwerg durchaus schon einmal von einer Zwergenbinge gehört haben könnte. Und so war Tiefwasser für Torim mitnichten unbekannt; die im wahrsten Wortsinn untergegangene Binge fungiert für junge Zwerge als abschreckendes Beispiel, was passieren kann, wenn man seine Mine nicht hinreichend gegen Wassereinbruch schützt. So kamen in Torims ergänzendem Bericht dann auch deutlich weniger Schätze vor als mehr überflutete Gänge, und Sargas und Kevron sahen ihre Felle fast schon wegschwimmen. Schnell alles runterspielen – ach, es wird schon nicht alles unter Wasser stehen, das hätten wir doch sonst gehört! Und dann gibt es doch auch noch einen Zauber zum Unter-Wasser-Atmen…
Und plötzlich war Kevron sehr viel kleinlauter. Hatte er eben noch stolz damit geprahlt, seine Zauberkunst weiterentwickelt zu haben, schließlich hatte er eine ganze Reihe Zauber des Zweiten Grades gelernt, eine bitter nötige Entwicklung, wo jetzt auch Sargas zaubern konnte, mußte er jetzt durch zusammengebissene Zähne zugeben, daß er den Zauber noch nicht konnte und auch noch nicht lernen. Mist. Und eine Schriftrolle mit dem Zauber, die er schon wirken konnte, war so teuer, daß er sich – ja, natürlich war Kevron schon wieder pleite! – keine eigene leisten konnte. Und auch den anderen saß das Geld nicht mehr so locker, wo sie nun die ersten Meisterarbeitswaffen und Mithrilkettenhemden trugen. Der Sumpf war vielleicht ein großes Abenteuer gewesen, aber alles andere als lukrativ… Schließlich einigten sie sich darauf, sich gemeinsam eine Schriftrolle zu teilen. Damit konnte man dann mal durch einen überfluteten Gang tauchen, sollte aber die ganze Binge unter Wasser stehen, würde das nicht ausreichen – aber da man das erst sehen konnte, wenn man da war, beschlossen die Gefährten, erst einmal aufzubrechen und dann weiterzusehen.
Bis an den Rand des Gebirges zu kommen ging ohne Probleme. Gemütliche Gasthöfe luden zum Absteigen ein, auch für die Pferde wurde gesorgt, und um nächtliche Überfälle mußte man sich auch keine Sorgen machen. Erst danach wurde es unbequem, und die Nacht wurde in vier Wachen aufgeteilt, damit jeder mal nach dem Rechten schauen konnte – ausgenommen natürlich Kevron, der es durchaus ausnutzte, als Magier einen ungestörten Nachtschlaf zu brauchen. Sargas hätte das ebensogut gelten machen können, aber er wollte sein kleines Geheimnis erst einmal für sich behalten. Und so oder so war an ungestörten Schlaf nicht zu denken, als Torim im Dunkel einen Schemen erspähte, mittelgroß und mit einer so großen Axt in der Hand, daß man es nicht mit einem verirrten Bergwanderer erklären konnte. Das Wort ‘Ork’ lag da schon viel näher.
Während Torim Karza und Kevan weckte, spähte er weiter in die Nacht. Der Ork war nicht allein, er hatte mindestens zwei Freunde dabei, und in freundlicher Absicht kamen die auch nicht. Kevan bedauerte, so schnell nicht in seinen Brustpanzer zu kommen, und rüttelte zum Ausgleich Sargas und Kevron wach. Doch letzterer hatte keine Lust zum Aufstehen. Er blinzelte in die Nacht, sah einen orkförmigen Schatten durch die Nacht schleichen, und mit ein paar unverständlich genuschelten arkanen Formeln zischte eine Flammenlanze durch die Nacht, die den Ork bis jenseits des Lebens und der Erkennbarkeit verkohlte – dann drehte der Magier sich auf die Seite, beschloß, daß die anderen mit den restlichen Orks auch so zurecht kommen sollten, und schlief weiter. Zum Glück hatte er Recht.
Jenseits der Nacht ging es mit Argwohn weiter. Wo drei Orks waren, mußte noch mehr sein, und die Wahrscheinlicheit, daß sie hinter diesem Paß oder jenem Gipfel ihr Lager hatten, war mehr als wahrscheinlich. Und es war ein klarer Unterschied, ob man es mit drei Orks aufnehmen mußte oder mit drei Dutzend, wenn nicht mehr. Als Torim hinter einer Biegung eine Bewegung wahrnahm, schlich Sargas vor, um die Lage auszukundschaften – und ebenso großmütig wie selbstbewußt verzichtete er darauf, sich von Kevron unsichtbar machen zu lassen, und verschwand über den Hügel. Gestikulierend versuchte er dann den anderen mitzuteilen, was er sehen konnte: Eine Gestalt mit großem Kopf. Eine große Gestalt. Aber ob Hauer mit Überbiss nun Troll bedeuten sollten oder Hauer mit Unterbiss, und was das international verständliche Zeichen für Ork sein sollte, darüber sollte sich die Gruppe später doch einmal einig werden. Nur eine Sache war klar: Daß der Ork mit dem Langbogen hinter dem Felsblock da auf Sargas zielte. Und grinste.
Danach ging alles sehr schnell. Daß ein Ork “Alarm!” brüllte war auch für jene zu verstehen, die kein Orkisch konnten. Die Worte danach, “Laßt Ferzig frei!”, erforderten zwar weiterreichende Kenntnisse, waren aber schnell klar, als der Oger angestürmt kam. Und den kümmerten auch keine Schleuderkugeln, seine Haut war einfach zu dick. Während Sargas sich in Deckung warf, rannten Karza und Kevan den Hügel hinauf, Karza dem Oger entgegen, Kevan den Orks – denn der Grinser war natürlich nicht alleine. Auch Kevron bewegte sich ein Stückweit hangaufwärts – und dann, ehe sie wußte, wie ihr geschah, ging mit Karza eine seltsame Verwandlung vor. Bei allen Wunschträumen hatte Kevron den Zauber Person Vergrößern nicht für sich selbst gelernt.
Die Frage ist, wer erstaunter war: Karza oder der Oger. Da stand er, mit seiner dicken Keule, drei Meter fünfzig groß – und vor ihm stand eine Halborkin und blickte auf ihn hinunter. Karza war groß. Ihr linkes Axtblatt war groß. Ihr rechtes Axtblatt war groß. Und daß sie damit auch ein bißchen besser zu treffen war als vorher, konnte ihr egal sein, als sie in Raserei verfiel. Es war nur eine Frage von vier, fünf Schlägen – und Wonder Woman mußte sich nach einem anderen Gegner zumsehen. Zum Glück waren noch genug davon da. Zwei Orks standen vor Kevan und schlugen mit ihren Großäxten so treffsicher auf ihn ein, daß man es kaum glauben konnte – ein kritischer Treffer jagte den nächsten, daß trotz der dicksten Rüstung im Team Kevan um Leib und Leben fürchten mußte. Zum Glück eilte ihm Sargas zur Hilfe – während unten bei den Pferden Torim seinen ganz speziellen Gegner ausgemacht hatte: Den dicken Ork mit dem Langbogen.
Keiner der beiden Kontrahenten wich von der Stelle. Von oben flogen die Pfeile, von unten die Bolzen, wie sich das für zwei Erzfeinde gehört, die sich gerade kennengelernt hatten. Torim war in seinem Element, und, trotz einiger unschöner Treffer, glücklich. Doch das Glück währte nicht lange. Mit Sargas’ Hilfe und einem klein bißchen Assistenz von Kervron waren Kevans Orks bald nicht mehr am Leben, und obwohl Kevron anbot, den schwerverwundeten Kämpfer in Sicherheit zu bringen, schlug der ebenso wie der Schurke vor ihm die Unsichtbarkeit aus und stürmte doch lieber weiter gen Orkboss. Sargas hinterher, und da half auch kein Fluchen: Plötzlich stand Torims Gegner im Nahkampf und war viel, viel schwerer zu treffen als vorher. Auch wenn er dann nicht mehr auf Torim schießen konnte: Es ging ums Prinzip, und man nimmt einem Gefährten nicht einfach den Gegner weg.
Egal. Die Schlacht wurde gewonnen, und weiter ging es in die Berge. Sargas’ Schatzkarte lotste die Gruppe erfolgreich durch die Berge, und dort, wo das kleine Bächlein herkam, fanden sie eine Höhle, groß genug, um dort nicht nur ein Nachtlager aufzuschlagen, sondern auch die vom Gebirge längst unglücklichen Pferde zurückzulassen – der mitgebrachte Hafer sollte sie für eine Weile bei Laune halten, und frisches Wasser war in unbegrenzter Menge vorhanden. Da war nur ein Problem: Diese Höhe war nicht nur der Hintereingang von Tiefensee, der kleine Bach diente auch den ebenfalls in den Höhlen lebenden Orks als Trinkwasserzufuhr. Und beim Erkunden während der Nachtwache brachte Karza – inzwischen wieder auf ihrer normalen Größe angekommen – gleich zwei Orks mit, einen toten und einen lebenden, der eine gute Geisel abgab und von dem man noch etwas mehr über die ortsansässigen Orks erfahren konnte.
Aber einfach blind jeden größeren oder kleineren Ork umbringen kam nicht in Frage. Karza war nicht nur ein Halbork, sie war auch unter Orks aufgewachsen, und so war Ork allein kein Tötungsgrund – Selbstverteidigung sah natürlich anders aus, aber warum, wenn es auch einfacher ging? Und so nutzte Karza ihre Wache, um sich auf die Suche nach dem Orkstamm zu machen. Furchtslos, freundlich und bestimmt fragte sie nach dem Häuptling – der sich aber als abwesend herausstellte. Und auf den Stellvertreter paßte leider die Beschreibung des dicken Orks, der seinen Langbogen freundlicherweise an Kevan vermacht hatte. Aber auch wenn die Line of Command nicht einzuhalten war, gelang es ihr, die Orks davon zu überzeugen, daß ein Abzug des Stammes wohl für alle Seiten das Beste wäre. Sogar die Geisel gab sie ihnen zurück – dafür ließen die Orks große Teile ihres Proviants zurück, und der schmeckt besser als Orkgeisel.
Am anderen Morgen war das Hallo groß. Alle waren Karza für ihren tapferen Einsatz dankbar, geschweige denn die Proviantorganisation – mit einer Ausnahme, muß man sagen. Und das war nicht Kevron, dem die anderen aus der Gruppe bis zum Verspeisen von Babys offenbar alles zutrauten, sondern Torim. Für den war nämlich Ork allein durchaus ein Mordmotiv. Wie auch Elf allein. Oder Mensch…? Wir wollen das gar nicht so genau wissen. Fest steht jedenfalls, daß sie aufgebrochen waren, nicht um Orks zu schlachten, sondern um eine alte oder nicht ganz so alte Zwergenbinde zu besichtigen. Und die lag nun direkt vor ihnen.