So ganz leicht wollte Meraid den Weißen Hirsch dann doch noch nicht aufgeben. Nachts, als ihre Gefährten schliefen und nichts davon mitbekamen, machte sie sich zurück auf den Weg zum Gasthaus, um dort erst den Wirt aus dem Bett zu werfen, aus ihm herauszubringen, in welchem Zimmer Erek und Derek schliefen, und dann bei den beiden Wachen endlich in Erfahrung zu bringen, wo Rufus gefangen gehalten wurde. Aber sie kamen nicht weit. Während sie zur Hintertür hereinschlich und sich noch suchend herumirrte, fand der Wirt sie – mit einer Armbrust im Anschlag. Kurzentschlossen machte sie die Biege, kehrte zur Goldenen Gans zurück und lag in ihrem Bett, bevor auch nur einer der anderen etwas von ihrem Fehlen bemerkt hatte.
Am anderen Morgen beschlossen sie, erstmal den Ball flachzuhalten und abzuwarten – eine Strategie, die sich auszahlte: Denn noch während sie beim Frühstücken saßen, kam Elfwins Botenmädchen an und brachte eine Nachricht für Kerym’tal: Gerold von Untertann ist gerade am Nordhafen in die Stadt eingeritten, und die Gilde hat ein Auge auf ihn. Für die Gefährten ein Grund mehr, erstmal weiter in der Goldenen Gans zu warten – wo dann bald auch Botschaft Nummer Zwei eintraf: Gerold brach schon wieder auf! Er hatte sich vom Weißen Hirsch auf den Weg gemacht, und um ihm zu folgen blieb nur ein kleines Zeitfenster – nicht das Optimale für eine Gruppe, die lieber lange diskutiert, bevor sie handelt …
Aber Kerym’tal, ungeduldig wie immer, machte Druck. Nein, der Wagen aus dem Weißem Hirsch hatte sich noch nicht in Bewegung gesetzt – aber der Wagen war doch wumpe, wichtig war, wo Gerold jetzt hin wollte: Bestimmt zu Rufus! Die Chance durften sie sich nicht entgehen lassen! Und nachdem Evy ein bisschen Überredungsarbeit brauchte, um nicht allein in der Goldenen Gans zurückzubleiben, ließen sie dort nur ihren Wagen zurück und sputeten sich, um noch einen Blick auf Gerolds Treck zu erhaschen. Und weil der wieder mit nicht weniger als zwanzig Mann unterwegs war, war es auch wirklich leicht, denen zu folgen.
So blieben die Gefährten in respektvollem Abstand, folgten dem von Untertann über die Hauptstraße, einen Seitenpfad hinunter, bis deren Ritt an einem Bauernhof endete. Evys scharfen Augen entging nicht, dass die umliegenden Felder einen recht verwahrlosten Eindruck machten: Aber ob das hieß, dass der Bauer einfach nur ein Trunkenbold war, oder ob hier finstere Machenschaften am Werk waren, das wussten sie nicht. Und einfach nur reinmarschieren, solange dort Gerold und seine zwanzig Wachen, darunter Erek, Derek und nicht zu vergessen das garstige Pferd waren, erschien doch unklug. Daher suchte Meraid ihnen erst einmal einen abgeschiedenen Rastplatz, wo sie auf Einbruch der Dunkelheit warten wollten.
Auf einen längeren Aufenthalt in der Wildnis war keine wirklich vorbereitet. Niemand hatte ein Zelt dabei, aber immerhin besaß Urorn eine Plane, um ihnen etwas Schutz vor dem Wetter zu gewähren – aber lange mussten sie dort auch nicht warten: Schon machte Gerolds Trupp wieder kehrt und preschte in vollem Galopp zurück zur Stadt. Also wieder hinterher? Mitnichten. Noch hatten sie den Bauernhof nicht untersucht. Und gab es einen besseren Ort, um Rufus unauffällig gefangenzuhalten? So ließen sie die Pferde am Rastplatz zurück und schlichen sich im Schutz der Dämmerung an das Haus heran. Und nun konnten sie endlich einmal davon profitieren, dass keiner von ihnen ein Mensch war: Denn so verfügte jeder von ihnen über verbesserte Sicht unter schlechten Bedingungen, sei als Dämmersicht bei Evy, Meraid und Kerym’tal oder vollständige Dunkelsicht bei Urorn und Thorn. So sollten sie beim nun folgenden Abenteuer ganz ohne Fackeln oder Kerzen auskommen.
Was sie hingegen nicht alle konnten, war schleichen. Thorn stampfte und klapperte, dass es eine Freude war – zumindest für jeden, der noch in diesem Bauernhof war. Zwar mochte ihm das keiner so direkt sagen, aber der Zwerg war schon ziemlich laut – und dabei trug er noch nicht einmal eine dicke Rüstung! Aber Thorn verstand selbst, dass er zu laut war, und bot an, zurückzubleiben. Er sprach noch einen Botschaftszauber auf Meraid und Evy, und der Rest der Gruppe bewegte sich weiter – in getrennte Richtungen. Denn während Meraid sich rechtsrum an die Scheune ranpirschen wollte, beschloss Evy, lieber linksrum zum Haupthaus zu schleichen. Urorn ging mit Evy, Kerym’tal mit Meraid, und verbunden blieben sie im Stille Post-Prinzip mit Thorn – aber es sollte noch schlimmer kommen. Denn wie kleinteilig kann eine fünfköpfige Gruppe sich noch aufteilen? Genau!
Erst einmal ging es also weiter mit Meraid und Kerym’tal. Sie sahen im Hof zwei Hunde und beschlossen, erst einmal einen Bogen darum zu machen. Während sie auf der Rückseite um die Anlage, bestend aus Scheune, Stall und Wohnhaus, herumschlichen, sahen sie eine Heuluke und drangen so mit gelungenen Kletterproben von hinten in die Scheune ein. Während Kerym’tal dort nach einer Falltür oder einer anderen Spur von Rufus suchte, machte sich Meraid über das Dach des Stalls weiter auf den Weg zum Haupthaus –
Aber zu Evy und Urorn! Die waren bald am Wohnhaus angekommen. Unten brannten Lichter, das sprach für Bewohner, mit denen sie sich nicht anlegen wollten, aber die oberen Fenster waren dunkel. So stemmte der Kleriker in Bardin in die Höhe, damit sie dort von der Fensterbank aus hineinspähen konnte. Das erste Fenster war ein Schlafzimmer mit einem für gewöhnliche Bauern ungewöhnlich prachtvollen Himmelbett. Aber es gab ja noch ein anderes Fenster! Das kletternd zu erreichen, war keine einfache Sache, aber der wendigen Evy gelang es, dort an der Wand lang hinzuturnen. Was man halt schafft, wenn man eine 18 würfelt! Das zweite Fenster führte in einen Gemeinschaftsschlafsaal.
Zurück zu den beiden Halbelfen. Während Meraid noch etwas unentschlossen vor dem Fenster eines Treppenhauses stand, folgte ihr Kerym’tal, dessen Suche ereignislos verlaufen war, über das Stalldach. Balancieren kein Problem, aber dabei leise zu bleiben, das war so eine Sache, und schon wurde einer der Hunde aufmerksam. Kerym’tal zögerte nicht lange, nahm seinen Kurzbogen, legte an und schoss – auf das Hühnerhaus, um mit erschrocken gackernden Hennen den Hund auf eine falsche Fährte zu locken. Ja, nicht mal der rabiate Kerym’tal würde einfach so einen unschuldigen Hund erschießen! Und schon war er bei Meraid angekommen, so dass immerhin die beiden jetzt wieder zusammen unterwegs waren. Sie kletterten zum Fenster ins Treppenhaus, wo sie dann erst einmal stehenblieben.
Auf der anderen Seite des Hauses hatte Evy von Fenster No. Zwo genug gesehen und wollte wieder hinüber zu Fenster No. Eins. Wir erinnern uns: Ein ganz schön schwieriges Stück Kletterei. Und diesmal würfelte Evy auch keine 18. Weit gefehlt. Urorn, der unten zum Fenster des Kaminzimmers hereingespäht hatte, versuchte die fallende Bardin noch aufzufangen, schaffte es aber nicht. Immerhin landete Evy weich, nämlich auf Urorn – einen gehörigen Lärm machte das trotzdem. Der Lärm rief die Hunde auf den Plan. Evy huschte hinter das Haus, bevor Hunde und Bewohner ankamen – Urorn aber blieb zurück und wartete lieber geduckt neben dem Fenster ab.
Oben, vom Fenster aus, beobachteten Kerym’tal und Meraid, wie ein Mann in den Hof trat, noch versuchte, die Hunde zu beruhigen, und zumindest er schien selbst von den Geräuschen nichts gehört zu haben – aber eine junge Frau schaute neben Urorn aus dem Fenster, um herauszufinden, was für ein Lärm das war. Kurzerhand packte der Halbork sie, zerrte sie aus dem Fenster und versuchte, ihr den Mund zuzuhalten – aber es gelang ihr noch, einen Schrei auszustoßen. Und den hörten auch Meraid und Kerym’tal. Und der Mann. Und die Hunde … Zeit zum Handen für die Halbelfen! Immerhin konnten Urorn und Evy in Gefahr sein – ach was! Das war doch das perfekte Ablenkungsmanöver! Wenn alles rausrannte, um nach dem Lärm zu schauen, war das Haus unbewacht. Zeit, es zu durchsuchen. Huzzah!
Draußen gelang es Urorn, die Frau – eigentlich ein ca. dreizehnjähriges Mädchen – so sanft zu ersticken, dass sie genau das Bewusstsein verlor, aber nicht ihr Leben, schleppte sie hinter da Haus, wo er sie mit Evys tatkräftiger Unterstützung fesselte und liegen ließ. Sie warteten noch, und als niemand kam, machten sie sich auf den Rückweg zum Haus – Angriff ist die beste Verteidigung – wo sie jetzt zum Fenster im Kaminzimmer einstiegen –
Aber erst einmal waren Meraid und Kerym’tal im Erdgeschoss angekommen. Weil aber die Treppe noch weiter nach unten führte, und weil doch der Keller der beste Ort war, um Rufus gefangenzuhalten, hielten sie sich nicht lange auf, sondern machten sich auf den Weg nach ganz unten. Und als sie dort eine versperrte Eisentür fanden, wähnten sie sich am Ziel. Hinter der Tür war nichts zu hören – gut, das ist bei dickem Metall auch schwer – aber Meraid hatte ihr Diebeswerkzeug dabei und knackte die Tür fachgerecht. Mit links, wie sie betonte – und da sie Linkshänderin war, kam das auch durchaus hin. Während Kerym’tal sicherheitshalber seine Kurzschwerter zog, öffnete Meraid die Tür. Sie quietschte laut und herzzerreißen, und spätestens jetzt wusste der dicke Typ auf der anderen Seite, dass sie da waren.
Mitnichten freute sich der Mann, dass er da gerade befreit worden war. Und der Schlüsselbund an seiner Seite verriet, dass er auch gar nicht der Gefangene war. So griff er nach seiner mächtigen Eisenkeule – alle riefen »Initiative!« Und weil Kerym’tal in kontrolleierte Berserkerwut verfiel und Meraid geschickt in den Nahkampf schoss, war der Mann sehr schnell deutlich töter als beabsichtigt. Und hatte noch nicht einmal die Frage »Wo ist Rufus?« beantworten können … Kerym’tal, der ja eigentlich so schnell keine Menschen mehr hatte töten wollen, versuchte noch, den Mann zu stabilisieren, aber da war Hopfen und Malz verloren. Da blieb als Trost nur noch der seltsam erleichterte Gesichtsausdruck, den der Dicke vor seinem Ableben aufgesetzt hatte – und von Kerym’tals Seite ein frustrierter Tritt gegen den Mann, der es gewagt hatte, einfach so zu sterben.
Oben, derweil, kletterten Evy und Urorn zum Fenster rein und hörten hinter der Tür die Hunde. Wie über alles, was an dem Abend passiert war, wurde Thorn per Botschaft informiert – der Zauber läuft ja erstaunlich lang, dafür, dass es ein Level-Null-Spruch ist – aber aktiv helfen konnte der Magier trotzem nicht, während Urorn mit bereitgemachter Tartsche provozierend gegen die Tür trat, bereit, alles niederzuschlagen, was nun hereinkommen sollte. Evy wartete auf der anderen Seite …
Schnitt! Zu den Halbelfen! Kerym’tal sperrte mit dem Schlüsselbund des Toten die Toten auf, hörte im Gang laute Schmerzensschreie –
Aber da kam oben – im dramatischen Finale braucht man schnellere Schnitte! – gerade ein Mann ins Zimmer und stand Urorn gegenüber, einen Holzscheit wie eine Waffe erhoben. Urorn packte ihn, um ihn zu Boden zu ringen, doch anders als das junge Mädchen entpuppte sich der Mann als durchaus stark und wehrhaft, und ein heftiger Ringkampf entbrannte. Und der Mann war nicht allein gekommen! Er hatte einen Hund dabei, der sich knurrend für Evy interessierte. Die versuchte gar nicht erst, ihn mit ihrem Dolch abzuwehren, der – in Gnomengröße – kaum mehr war als ein Zahnstocher war, sondern rettete sich mit einem beherzten Satz auf das nächste Sideboard, wo der Hund sie nicht erreichen konnte, hoffentlich zumindest –
Keller! Zurück zu den Halbelfen! Die fanden sich, den Schreien folgend, in einer Folterkammer wieder, wo ein Mann gerade damit beschäftigt war, den armen Rufus fachgerecht und brutal zu quälen. Und weil der so laut schrie, hatte der schwarzbekuttete Folterknecht gar nicht mitbekommen, dass die Tür aufgegangen war, und kehrte Meraid und Kerym’tal den Rücken zu. Während Kerym’tal, noch einen Moment lang atemlos von der letzten Barbarenwut, noch nach Luft schnappte, zögerte Meraid nicht. Ein Blattschuss in den Rücken, verstärkt durch den Schaden aus ihrem hinterhältigen Angriff, ließ en Mann herumfahren – woraufhin sich Kerym’tal, bereit für die nächste Barbarenwut, auf ihn stürzte. Seinen kritischen Treffer konnte er nicht verifizieren, das tat hingegen der Folterknecht mit seiner eigenen Waffe.
Nachdem Kerym’tal vorhin schon die Keule des anderen Mannes abbekommen hatte, konnte er froh sein, als Barbar über die meisten Trefferpunkte der Gruppe zu verfügen, und noch ziemlich bequem zu stehen – und noch mal mit beiden Waffen zuzustechen. Der Folterknecht stieß einen schrillen Schrei aus, wuchs um eine ganze Größenkategorie, und starb. Was, zum Henker, war das?
Schnitt! (Wirklich, wir haben das mit den schnellen Schnitten echt raus – aber wenn sich die Gruppe schon sinnlos aufsplittern muss, ist das wohl besser so). Evy stand auf dem Sideboard, unten bellte der Hund sie an, und weil sie ihren Bogen nicht mitgenommen hatte, war sie außerstande, das Tier abzuwehren. Und im Ringkampf zwischen Urorn und dem Mann ging es auch nicht weiter, mal hielt der Halbork den Menschen im Haltegriff, mal umgekehrt, und seine Waffen konnte Urorn, der ja nur die Tartsche bereitgemacht hatte, nicht erreichen – und so tat Evy das letzte, was ihr noch blieb: Sie rief den immer noch draußen wartenden Thorn zur Hilfe.
Endlich war die Stunde des Magiers gekommen! Er warf den Zauber Expeditious Retreat an, der mal eben spontan seine Laufreichweite verdoppelte, und machte sich auf den Weg –
Aber weil da gerade die Uhr halb zehn schlug und es Zeit war, die Runde zu beenden, muss »Thorn to the rescue« noch bis zum nächsten Mal warten. Man soll immer aufhören, wenn es am spannendsten ist. Fortsetzung folgt …