Es war früher Nachmittag in Südwacht, und Zeit für ein bisschen Sightseeing. Unter einem zeltförmigen Dach trocknete malerisch Holz, das die Einheimischen für ihren Eigenbedarf zurückgehalten haben. Bei Südwacht teilte sich der Fluss – der eine Arm floss in Richtung Fallonde, der andere nach Crimor. Außerhalb der Stadt wuchs eine große Linde. In der Stadt gab es ein eher rustikales Gasthaus, das steinerne Gildenhaus, Friedmuts Laden und ein paar Wohnhäuser – wirklich nicht mit einer Stadt wie Castow zu vergleichen, aber das hatte ja auch niemand behauptet. Auf der anderen Seite der Lichtung standen ein paar Blockhütten, einige davon in desolatem Zustand. Draußen bei der Linde standen zwei Gebäude aus gewachsenem Holz, das eine hoch, das andere lang, und beide schrien »Elfisch!«
Aber so sehr sich die Gefährten auch für diese fremdländische Architektur interessierten, entschieden sie sich doch dazu, erst einmal im Gasthaus einzukehren und dort ein oder mehrere Zimmer zu nehmen. Das Wirtshausschild zeigte ein Einhorn, und so hieß das Haus dann auch: Zum Fröhlichen Einhorn. Wo die inzwischen ausgecheckte Abenteuerin Cere schon an einem Tisch saß, hieß eine stämmige Menschenfrau, Rita. die Gruppe willkommen. Hier tranken vor allem die Einheimischen ihr Feierabendbier, aber für die Fremden, die sich nach Südwacht verirrten, wurden auch Gästezimmer bereitgehalten – nur Einzel- und Doppelzimmer, einen Schlafsaal gab es nicht, aber Meraid und Kerym’tal, die ihr knappbemessenes Geld lieber beisammen halten wollten, gab es die Option, auf dem Heuboden abzusteigen.
Aber vorher gab es noch etwas wichtiges zu erledigen: Urorn fragte, wann zuletzt ein Cayden Cailean-Kleriker vorbeigekommen war, und als die Wirtin meinte »Noch nie«, bot er an, das Bier zu segnen. Dafür, dass er sich diesen Job nicht ausgesucht hatte, nahm er seine Berufung wirklich ernst. Rita rief Ginas herbei, der sich als rundlicher Halbling in blutbespritzer Metzgerschürze herausstellte, und dieser führte dann Urorn in den Keller, wo die Fässer lagerten, damit er seines Atmes walten konnte. Und natürlich nahmen die Gefährten noch einen Schluck mit auf den Weg, ehe sie sich auf den Weg zu Friedmut machten.
Der hatte sie immerhin eingeladen, und das wollten sie sich doch nicht entgehen lassen! Vielleicht erwartete sie da eine fürstliche Belohnung für die Rettung der Schwiegertochter, vielleicht ein Auftrag, vielleicht …eine Werbeverkaufsverantaltung? Aber da empfahl Friedmut schon seine Kanus, Proviant, Schusswaffen, um uns den Weg zum verlassenen Holzfällerlager zu erleichtern. Nur mit der Karte, nach der Thorn fragte, konnte der Kaufmann nicht aufwarten und verwies an Reder, den Gildenmann, dem die Gefährten bereits am Pier begegnet waren. Aber Kerym’tal knirschte völlig unnötig mit den Zähnen. Mitnichten wollte Friedmut all diese Sachen verkaufen: Er war wirklich dankbar für den Beistand, den seine zukünftige Schwiegertochter auf der Überfahrt durch die Gruppe genossen hatte, und hatte vor, Ausrüstung und Proviant unentgeltlich zur Verfügung zu stellen.
Und noch einen Ratschlag hatte Friedmut: Als Thorn nach dem Holzfällerlager fragte, wurde er auf Andres von der Gilde verwiesen, der war derjenige, der derjenige, der im April das Verschwinden der Holzfäller und ihrer Familien entdeckt hatte. Und vielleicht würde er bereit sein, ein paar Fragen zu beantworten? Ach, bestimmt! Es war doch im Interesse von ganz Südwacht, dass diese mutigen Helden den Fall aufklären! Oder etwa nicht? Als die Gruppe sich postwendend auf den Weg zur Gilde machte, öffnete erst einmal niemand die Tür, dann tauchte ein mürrisch aussehender Halbelf auf. Nach Andres gefragt, schwieg der sich erst einmal aus – dann schlug er den verdutzten Gefährten die Tür vor der Nase zu.
Kerym’tal schäumte schon wieder ein bisschen angesichts der Vorstellung, dass dieser unverschämte Kerl offenbar Geld für eine einfache Auskunft sehen wollte – immerhin waren sie hier, um zu helfen und sich dafür bezahlen zu lassen, nicht umgekehrt dafür zu bezahlen, die Holzfäller retten zu dürfen! Aber nach ein paar Minuten, während derer die Gefährten einfach vor der Tür des Gildenhauses stehenblieben, tauchte ein junger Mensch auf – das also war der echte Andres. Und er war auch breit, Fragen zu beantworten – wenn er einmal Feierabend hatte.
Und so tauchte Andres am Abend auch wirklich am Tisch der Gefährten im »Einhorn« auf, um Bericht zu erstatten: Als er kam, um nach den Holzfällern zu sehen, fand er die Häuser verlassen vor, als wären die Leute eben erst aufgestanden und zur Tür hinaus. Es gab keine Kampfspuren, zumindest keine, die er wahrgenommen hätte, kein Blutbad – und dann kehrte Andres nach Südwacht zurück, ohne sich groß an die Ermittlungen zu machen. Die übernahm dann Erhardt, der Waldläufer-Freund von Talathel, nach dem die Gruppe ja auch Ausschau halten sollte, denn Erhardt ward nicht mehr gesehen, nachdem er sich auf den Weg zum Holzfällerlager gemacht hatte, um das Geheimnis der Verschwundenen anzugehen.
In mancher Hinsicht stellte sich Andres als sehr hilfreich heraus. Er beschrieb den Weg über die verschiedenen Arme und Abzweigungen des Flusses so gründlich, dass keine weitere Karte mehr nötig sein würde, und unfreundlich war er auch nicht. Aber auf der anderen Seite war er ausgesprochen reserviert, und die Gefährten hatten schnell den Eindruck, dass er ihnen etwas verschwieg. Sie versuchten es mit Diplomatie, aber das Würfelglück war anderer Meinung. Da halfen nur brachiale Mittel: Evy wollte schon ein ganzes Goldstück anbieten, Kerym’tal, der sich sonst selbst an Dünnbier hielt, bestellte eine ganze Runde Schnaps, und obwohl Andres weder an dem einen, noch an dem anderen Interesse zeigte (und sich prompt von Meraid fragen lassen musste, ob er denn ein Alkoholproblem hätte, wenn er nichts trinken wollte), gelang es dann, ihm aus der Nase zu ziehen, was ihm auf der Seele brannte.
Es stellte sich heraus, dass Reder, der GFildenmann, irgendwie sehr wenig überrascht war, als das Verschwinden der Holzfäller herauskam. Auch erschien es Andres seltsam, dass Reder ausgerechnet Erhardt zum Nachforschen ausgeschickt hat, denn tatsächlich schien Reder von Erhardts Fähigkeiten nicht die größte Meinung zu haben. Die Gefährten sahen einander an und nickten. Sie konnten diesem Reder eine ganze Menge zutrauen, aber erst einmal beschlossen sie, sich dieses Misstrauen nicht anmerken zu lassen und erstmal einen Bogen um den Mann zu machen. Was Erhardts Wahl anging, da gab es mehrere Möglichkeiten: Zum einen konnte es sein, dass Reder den Mann verschwinden lassen wollte, indem er ihn ins offene Messer laufen ließ, zum anderen war es möglich, dass die Wahl eines unfähigen Ermittlers dazu führen sollte, dass Reders eigene Verstrickungen in das Verschwinden nicht herauskommen sollten – und vielleicht war es auch beides.
Ansonsten hatte Andres nur noch ein paar wilde Gerüchte im Angebot, was da passiert sein könnte – die von rachsüchtigen Elfen über eine hungrige Goblinbande bis hin zu Feen reichten. Aber erst einmal gab es wenig, dass die Gefährten dazu sagen konnten. So entschieden sie sich, den Tag ruhig ausklingen zu lassen. Und wenn Andres den Schnaps nicht haben wollte – irgendjemand musste den schließlich noch trinken.