Morgens beim Frühstück in der Goldenen Gans machten die Gefährten da weiter, wo sie am Tag davor aufgehört hatten: Mit Ermittlungen. Thorn konnte endlich »Magie Lesen« wirken und identifizierte das in der Geldbörse gefundene Arkane Mark als das Zeichen eines Magiers mit Namen Ilas Sudal – eine wertvolle Information, schöner wäre es nur gewesen, wenn dieser Name auch irgendjemandem etwas gesagt hätte. So reihte sich Thorn ein unter denen, die beschlossen, den Tag mit Nachforschungen zu verbringen. Irgendwie musste doch herauszufinden sein, wo Rufus gefangen gehalten wurde!
Meraid horchte sich bei allen Bekannten, die Rufus in der Stadt hatte, um, ob jemand gesehen hatte, wohin er gebracht worden war, und hatte keinen Erfolg damit: Niemand hatte irgendetwas gesehen. Evy machte sich auf den Weg ins Wildnisviertel, um sich nach dem Weißen Hirsch umzusehen, fand das gleichnamige Gasthaus, staunte über die großen angeschlossenen Stallungen, entschied sich aber dagegen, hineinzugehen. Und Kerym’tal erkundete sich, unter dem Vorwand, da einbrechen zu wollen, bei Angehörigen der örtlichen Diebesgilde nach dem Haus Untertann, auf das sie einen Hinweis gefunden hatten.
Nur Urorn entschied sich nach dem Ausspähungszauber vom Vortag dafür, lieber den Ball flach und den Kopf unten zu halten – schließlich war er als halborkischer Kleriker vielleicht ein bisschen zu auffällig. So blieb er in der Goldenen Gans, erwog, dort ein paar Gottesdienste abzuhalten, und entschied sich dann doch dagegen: Nichts gegen einen unauffälligen Flüstergottesdienst, aber selbst dafür hätten die Leute ja überhaupt erst einmal wissen müssen, dass Urorn da war. So beließ er es dann doch dabei, die örtlichen Biersorten zu verkosten, und den Tag auf diese Weise totzuschlagen.
Kerym’tal hatte da erst einmal mehr Erfolg: der Kontakt eines Kontakts eines Kontakts, so hieß es, könnte etwas wissen. Nur war durch das Stille-Post-Prinzip beim Herumfragen völlig verlorengegangen, dass es eigentlich um das Haus Untertann ging und nicht nur um einen guten Ort zum Einbrechen, und Kontakt Elfwin konnte Kerym’tal dann nur sagen, dass die Untertanns ihr Anwesen entlang dem Weg ins fünf Tagesreisen entfernte Crimor hatten, keine Villa in der Stadt besaßen, also auch keinen Ort, an dem Rufus gefangengehalten werden konnte, und es konnte höchstens sein, dass jemand im Wildnisviertel etwas über die Untertanns wissen konnte.
So horchten sich dann Evy und Kerym’tal, die sich dabei nicht über den Weg liefen, voneinander unabhängig im Wildnisviertel um, wo sonst Waldläufer und Holzfäller ihre Felle und ihr Holz umschlugen und sich mit Vorräten eindeckten. Und dort hatte man auch von den Untertannen gehört: Die waren nämlich offenbar gerade dabei, eine Expedition vorzubereiten, und kauften eine Menge Reisebedarf ein, der nach und nach auf einem im Weißen Hirsch abgestellten Wagen eingelagert wurde. Bei der Erwähnung des Weißen Hirschen kam Kerym’tal auf die Idee, dort mal reinzugehen, und erkundigte sich beim Wirt beiläufig nach »seinem alten Kumpel« Derek und dessen Truppe, nur um zu erfahren, dass die dort noch nicht wieder abgestiegen waren. Dann gingen ihm die Fragen aus, schließlich war er Barbar und kein Privatermittler, und er ging wieder zurück zur Goldenen Gans – etwas, wozu sich auch Evy entschloss.
Thorn, derweil, war im Karawansereiviertel unterwegs, wo es einen Laden für Magiebedarf geben sollte. Der kleine Laden, genannt »Das Purpurne Pendel«, stellte sich als außerordentlich aufgeräumt heraus, nicht als die klassische mit magischem Krempel vollgestopfte Rumpelkammer, und war vor allem darauf spezialisiert, magische Dienstleistungen zu vermitteln – aber Ilas Sudal gehörte nicht zum Kader des Pendels. Und die freundliche, aber etwas reservierte Elfe hinter der Ladentheke schien auch recht erstaunt, dass der zwergische Magier nach ihm fragte – schließlich hatte er, so meinte sie, ein zu ehrliches Gesicht dafür. Thorn, der sich vorkam, als hätte er gerade nach dem berüchtigtsten Nekromanten der Gegend gefragt, verabschiedete sich bald wieder und entschied sich dagegen, Ilas Sudal eine Botschaft ausrichten zu lassen – auch das hätte den Bestrebungen, ganz unauffällig zu bleiben, widersprochen.
So traf alles zum Mittagessen wieder in der Goldenen Gans zusammen, tauschte aus, was man in Erfahrung gebracht hatte (immerhin ein bisschen), und überlegte dann, was man nun unternehmen konnte. Rufus befreien stand immer noch ganz oben auf der Tagesordnung, aber dem waren sie irgendwie keinen Schritt weitergekommen. Kerym’tal hatte eine Idee: Wenn schon niemand etwas von dem alten Schmuggler gesehen hatte, vielleicht wusste dann jemand etwas über den Mann, der sich bei der Entführung als Wortführer gebärdet hatte, den mit der großen Nase? Zwar hatte bislang nur Meraid den gesehen, und auch nur von Weitem: Aber vielleicht konnte sie ja eine Skizze anfertigen, die Kerym’tal seinen neugefundenen Unterweltkontakten zeigen konnte? Und so machte sich Meraid an die Arbeit.
Evy hatte ihrerseits eine Idee: Sich in den Weißen Hirsch setzen und schauen, ob es dort eine Spur von Derek und Co. geben sollte. Das Problem? Als gnomische Bardin mit türkisem Haar und auffällig bunten Kleidern würde sie denen sofort ins Auge springen, auf die Gefahr hin, dass die Wachen ihr wirklich wehtun würden, und da konnte Evy noch so laut bekräftigten, dass sie keine Angst hatte – Kerym’tal legte ihr doch nahe, sich zu verkleiden und das Ganze, entsprechend dem Schlagwort des Tages, unauffällig anzugehen. Schließlich klang die Gnomin nicht so, als ob ihr schon einmal jemand ernsthaft wehgetan hatte, und Kerym’tal sprach da aus Erfahrung … So ging Evy sich umziehen und hatte doch einiges Talent im Verkleiden, so dass sie sich anschließend hinreichend wenig ähnlich sah, um sich dann allein auf den Weg zum Weißen Hirsch zu machen.
Kerym’tal hingegen nahm die fertige Skizze von Meraid entgegen und machte sich damit auf den Weg zu Elfwin, in der Hoffnung, dass der ihm diesmal weiterhelfen konnte. Der Mann hatte die Figur auf dem Bild zwar noch nie gesehen, bot aber an, sich umzuhören – gegen einen Preis. Und weil Kerym’tal befand, dass es um Leben und Tod ging, ließ er ein ganzes Goldstück springen, um die Informationen schnell zu bekommen – besser, als der Gilde Zeit zu lassen und am Ende Rufus nur tot zu finden. Dabei kannte Kerym’tal Rufus noch nicht einmal – aber was tat man nicht alles, um einem in Not geratenen Halbelf zu helfen! Gut, Kerym’tal hatte nie gefragt, ob Rufus nun Mensch, Elf, Halbelf oder am etwas ganz anderes war, aber Meraid war eine Halbelfe, und was sollte ihr Mentor dann anderes sein als selbst einer?
So kam dann relativ bald ein kleines Mädchen mit einer Botschaft in die Goldene Gans: Der Nasenmann war identifiziert worden! Es handelte sich um niemand anderen als Gerold von Untertann, ja, genau den von Untertann, der gerade dabei war, Sachen für eine Expedition zusammenzutragen, im Weißen Hirsch. Und damit wurde es den zurückgebliebenen Gefährten etwas mulmig bei der Vorstellung, dass Evy gerade ganz alleine da saß, wo alle Fäden zusammenliefen, und weil sie alle anderen Quellen für den Tag erschöpft hatten, beschlossen sie, sich auch dorthin zu begeben. Unauffällig, versteht sich. Kerym’tal war ja ohnehin daran gewöhnt, seine auffälligen Haare unter einer Kapuze zu verbergen, und die flammendrothaarige Meraid tat es ihm nach. Thorn ersetzte seine Magierroben durch Lederzeug, und Urorn versteckte sein heiliges Symbol im Kragen und schmierte sich ein bisschen Dreck ins Gesicht. Das war zwar nichts im Vergleich zu Evys Verkleidungskünsten, aber he, man kann es ja zumindest mal versuchen!
Es wurde beschlossen, dass die beiden Halbelfen reingehen sollten und sich umhören, während Thorn und Urorn draußen warten würden – verbunden durch den Zauber »Botschaft«, mit dem sie sich, zumindest zwanzig Minuten lang, flüsternd über Entfernung verständigen konnten. Und so wurde es auch durchgeführt. Meraid und Kerym’tal betraten das Gasthaus, nahmen an einem Tisch platz und stellten erleichtert fest, dass es Evy gut ging – die saß an einem anderen Tisch, war immer noch verkleidet, hatte nur leider auf ihren Intelligenzwurf eine 1 gewürfelt und darum unter den Umsitzenden nicht Erek aus Dereks Team erkannt, der da saß und augenscheinlich auf jemanden wartete.
Dafür wurde Evy dann aber der beiden Halbelfen gewahr und von großem Zorn gepackt, dass ihre Gefährten ihr offenbar nicht zutrauten, sich einmal allein umzuschauen. Sie marschierte hinaus, fand dort wie erwartet auch Urorn und Thorn vor, und trat beiden, statt Fragen zu stellen, erst einmal beherzt gegen das Knie, oder versuchte es zumindest. »Wir versuchen gerade, unauffällig zu sein«, erklärte Urorn, der sich keiner Schuld bewusst war, und versuchte dann Evy in die neuen Erkenntnisse über Gerold von Untertann einzuweihen – die Frage ist nur, ob sie in ihrem schäumenden Zorn dabei überhaupt zuhörte. Immerhin ließ sie sich dazu herab, über einen eigenen Botschaftszauber ihrerseits mit den beiden Draußengebliebenen in Kontakt zu bleiben, und ging wieder hinein. Sie nahm den Weg durch den Stall und fand dort das garstige Pferd wieder, das sie beim Planwagendiebstahl zurückgelassen hatten.
Drinnen kamen dann auch Sachen in Bewegung: Derek kam vom Stall herein, setzte sich zu Erek, und Kerym’tal spitzte die Ohren noch ein bisschen weiter, um die beiden zu belauschen. Sie waren das Warten augenscheinlich leid, wären am liebsten schon sofort wieder losgeritten, hatten aber Angst, dass man dann wieder »den Grünen« auf sie ansetzen könnte – wahrscheinlich Magier Ilas Sunal, der, wie Meraid bestätigte, eine grüne Robe getragen hatte. Und dann saßen die beiden da und warteten. Und warteten. Und für die Gefährten an ihrem Tisch galt das gleiche. Sie sahen zu, wie erst Erek, dann Derek in Richtung Stall verschwand und wiederkam, und wechselten sich ihrerseits damit ab, hinauszugehen und den Botschaftszauber erneuern zu lassen – aber bis auf einen kurzen Schreckmoment, als der Wirt Derek verriet, dass sich jemand nach ihm erkundigt hatte, ging der Abend ereignislos vorüber: Niemand kam, der das Warten gerechtfertigt hätte.
Anschließend blieb gerade noch genug Zeit, um im Nieselregen ein paar Pläne zu schmieden beziehungsweise zu verwerfen. So wollte Evy gerne unter dem Wagen festgeschnürt werden, um herauszufinden, wo er hinfahren würde – zu gefährlich, verworfen. Oder sich im Wagen zu verstecken – zu unsinnig, es kann Tage dauern, bis der losfährt, und von der Beladecrew wird sie bestimmt gefunden. Und überhaupt waren Alleingänge, egal durch wen, zu riskant. Da spielte es gar keine Rolle, dass Evy nur ein kleiner Gnom war: So ein Anliegen hätten die Gefährten auch jedem anderen ausgeredet. Meraid wiederum wollte den Wagen am liebsten stehlen – das wurde ebenfalls verworfen, denn es hätte nichts zur Wahrheitsfindung beigetragen, wo die Expedition hingehen soll oder wo Rufus gefangengehalten wird, und überhaupt, einen Wagen zu stehlen hatte erstmal genügt. so wurde beschlossen, ein Auge drauf zu haben, wann die Expedition losgeht – beziehungswiese Kerym’tals Unterweltkontakte darauf anzusetzen – und dem Trek zu folgen, wenn es soweit war.
Denn sonst gab es ja nichts mehr zu tun, keine weiteren Anhaltspunkte mehr, und keine Hinweise auf Rufus – oder etwa doch? Aber das hat alles Zeit fürs nächste Mal …